Als Hitler im April 1933 die Juden zu vertreiben begann, gab es einen Staatsmann in Europa, der sofort begriff, daß der Schaden Deutschlands der Vorteil seines eigenen Landes werden könne: Kemal Atatürk, der zu jener Zeit fest in der Regierung saß, autoritäre Macht ausübte und dabei längst eingesehen hatte, daß sein “unterentwickeltes Land” in vielen Lebensgebieten auf ausländische Hilfe angewiesen war. Seit Jahren gab es in der Türkei ausländische Ingenieure, Agrarexperten und Vertreter einzelner anderer Berufe. Aber die einzigen Universitäten, Ankara und Istanbul, hatten sich fast gänzlich dem Einfluß Europas entzogen. Ankara war überdies eine kleine Provinzialstadt, und die Universität, eine Gründung neuesten Datums, steckte in den ersten Anfängen.
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Ob die Berufung von über siebzig deutschen Professoren an die beiden Universitäten Atatürks eigener Gedanke war oder vielleicht von einigen praktisch denkenden deutschen Emigranten inspiriert wurde, möge dahingestellt bleiben. Tatsache ist, daß bereits 1933 ein offizielles Bureau in Zürich existierte, an das jeder Akademiker sich wenden mußte, der auf Anstellung in der Türkei hoffte. Es wurde im wesentlichen von deutschen Emigranten geleitet, und obwohl wir selbst zu den Begünstigten gehörten und daher alle Ursache haben, dankbar zu sein, so weiß ich doch von häßlichen Fällen, von Bevorzugungen und Ungerechtigkeiten. Wir wollen die menschlichen Schwächen, die sich dort wie überall entwickelten, heute vergessen und uns an das Gute halten, was erreicht wurde. Berühmte Professoren erhielten ihre Berufung nach Istanbul, von Mises in Mathematik, Leo Spitzer und später Erich Auerbach in Romanistik, viele wohlbekannte Mediziner, Kunsthistoriker, Sozialwissenschaftler, Rechtsgelehrte usw. Auch für junge Menschen war Raum. Wir selbst lehrten Sprachen — jede Sprache, die wir nur irgend konnten — an der Universität Istanbul. Es war eine höchst gemischte Gruppe, keineswegs nur Juden, auch keineswegs bloß deutsche Akademiker, sondern Schweizer, Schweden, Franzosen.
Alle diese Menschen, natürlich mit Frauen und Kindern, kamen dort binnen kürzester Zeit, etwa von 1933 bis 1934, zusammen. Die Professoren waren gut bezahlt und wohnten in schönen, modernen Wohnungen. Die Stadt und die Natur sind wunderbar, und hätten die Emigranten in anderen Ländern ihre Existenz mit der unsrigen vergleichen können, so hätten sie uns zweifellos beneidet. Aber dazu war trotz des äußeren Anscheins kein Anlaß Vorhanden. Unser Leben war schwer und voll bitterer Mühsal.
Atatürk hatte zwar seine Regierung zu Rate gezogen, als er die deutschen Akademiker rief, aber keineswegs seine türkischen Professoren. Denen wurden die Ausländer eines Tages einfach vorgesetzt und sie reagierten dementsprechend. […] Vor dem Krieg ist es unter den Ausländern wohl nie zu Verhaftungen und Bestrafungen gekommen – nur die türkischen Professoren wurden rücksichtslos entlassen oder auf andere Weise gemaßregelt. Aber es herrschte eine Atmosphäre allseitigen Mißtrauens, die jede Zusammenarbeit nahezu unmöglich machte.
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Und so verließen wir denn, einer nach dem anderen, ein Land, das so viel Schönes und Interessantes zu bieten hatte, aber das uns nicht absorbieren konnte. Die meisten gingen noch vor dem Krieg nach Amerika, wo die Anpassung nach der türkischen Erfahrung ein Kinderspiel war. Die alten Konstantinopolitaner wissen noch voneinander und wenn wir uns treffen, sprechen wir von dem orientalischen Zauber und dem modernen Schrecken, in dem wir gemeinsam lebten. Einige kamen nicht mehr fort und brachten den Krieg teils arbeitend, teils in Lagern, die sie mit deutschen Nazis teilen mußten und von denen sie mehr zu leiden hatten als von Seiten der türkischen Aufseher. Und einige wenige haben all das überlebt und sind nun dort zu Hause, mit Türken bzw. Türkinnen verheiratet, so stark assimiliert, daß sie heute nicht nach Deutschland zurückkehren möchten. Aber für die meisten war es eine Phase der Emigration, eine Zuflucht in schweren Zeiten, für die wir dankbar waren, aber keine zweite Heimat, wie Amerika es für uns geworden ist.
When Hitler began to expel the Jews in April 1933, there was one statesman in Europe who immediately understood that Germany’s damage could become his own country’s advantage: Kemal Atatürk, who was firmly in government at the time, exercising authoritarian power, and who had long since realized that his “underdeveloped country” was dependent on foreign help in many areas of life. For years, there had been foreign engineers, agricultural experts and representatives of certain other professions in Turkey. But the only universities, Ankara and Istanbul, had almost completely escaped European influence. Ankara, moreover, was a small provincial city, and the university, a recent foundation, was in its infancy. […]
Whether the appointment of more than seventy German professors to the two universities was Atatürk’s own idea or perhaps inspired by some practical-minded German emigrants remains to be seen. The fact is that as early as 1933 there was an official bureau in Zurich to which every academic hoping for employment in Turkey had to turn. It was essentially run by German emigrants, and although we ourselves were among the beneficiaries and therefore have every reason to be grateful, I know of ugly cases, of preferential treatment and injustices. Let us forget today the human weaknesses that developed there, as everywhere, and hold on to the good that was achieved. Famous professors received their appointment to Istanbul, von Mises in mathematics, Leo Spitzer and later Erich Auerbach in Romance studies, many well-known physicians, art historians, social scientists, legal scholars, etc. There was also room for young people. We ourselves taught languages – any language we could – at Istanbul University. It was a highly mixed group, by no means only Jews, nor only German academics, but Swiss, Swedish, French.
All these people, of course with wives and children, came together there within a very short time, from about 1933 to 1934. The professors were well paid and lived in beautiful, modern flats. The city and nature are wonderful, and had the emigrants in other countries been able to compare their existence with ours, they would undoubtedly have envied us. But despite appearances, there was no reason to do so. Our life was difficult and full of bitter hardship.
Atatürk had indeed consulted his government when he called the German academics, but by no means his Turkish professors. One day the foreigners were simply put in front of them and they reacted accordingly. […] Before the war, there were probably never any arrests or punishments among the foreigners – only the Turkish professors were ruthlessly dismissed or otherwise reprimanded. But there was an atmosphere of all-round mistrust which made any cooperation almost impossible. […]
And so, one by one, we left a country that had so many beautiful and interesting things to offer, but which could not absorb us. Most of us went to America before the war, where adaptation was child’s play after the Turkish experience. The old Constantinopolitans still know about each other and when we meet we talk about the oriental magic and the modern horror we lived in together. Some never left and spent the war partly working, partly in camps they had to share with German Nazis, from whom they suffered more than from the Turkish guards. And a few survived all that and are now at home there, married to Turks or Turkish women, so strongly assimilated that they do not want to return to Germany today. But for most of them it was a phase of emigration, a refuge in difficult times, for which we were grateful, but not a second home, as America has become for us.
Liselotte Dieckmann (née Neisser), born in Frankfurt am Main in 1902, died in St. Louis, Missouri in 1994, was a German scholar, comparative literary scholar and translator of German origin. She found temporary protection in Istanbul from 1934 to 1938 before finally emigrating to the USA in 1938.
The report “Academic Emigrants in Turkey” by Liselotte Dieckmann from 1964 was published in: Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftteller im Exil, ed. Egon Schwarz and Matthias Wegner, Hamburg: Christian Wegner Verlag.