“Why do most Germans only know old stereotypes about other societies?“
The Syrian-Kurdish writer Widad Nabi has been living in Germany for 5 years. She does not see any distance between her and her German friends, because it is about culture, literature and freedoms. Despite her satisfaction in Germany, she has dreams and nightmares about her homeland.
Ankommen ist in erster Linie die psychologische Bereitschaft anzukommen und den Faden zur Vergangenheit durchzuschneiden. Ich glaube, dass Ankommen für jede Person etwas anderes bedeutet. Einige sind angekommen, sobald sie das neue Land betreten haben, andere leben viele Jahre im neuen Land ohne anzukommen. Es gibt viele, die die deutsche Sprache fließend sprechen und ein soziales Netzwerk aufgebaut haben, aber tief im Innern stecken sie noch immer an der Grenze fest. Es ist ein psychologisches Gefühl, das mit einer Vielzahl von Faktoren und Umständen verbunden ist.[…]
Wenn das Sprachproblem gelöst ist, schwindet die Distanz in den Beziehungen zwischen den Neuankömmlingen und der Aufnahmegesellschaft. Ich habe sehr starke Freundschaften mit Deutschen, und ich hatte nie das Gefühl, dass zwischen uns eine Distanz besteht. Vielleicht, weil es uns um Literatur, Kultur und Freiheiten geht.[…]
Wenn wir das menschliche Gehirn kennenlernen wollten, würde ich sagen, es besteht aus Erinnerungen. Die Erinnerungen bleiben, am Anfang stark, aber allmählich verblassen sie, das neue Leben und seine Anforderungen überlagern sie. Aber Erinnerungen sind die Wurzeln, und niemand kann seine Wurzeln abschneiden, ohne zu sterben. Heimat sind Erinnerungen, sowohl glückliche als auch traurige. Man kann mehrere Heimaten aufbauen, wenn man Erinnerungen dort sammelt. Wenn ich ein paar Tage verreise, vermisse ich Berlin, vermisse ich mein Zuhause und die Stadt, als wären sie wirklich meine Heimat. Zugehörigkeit ist nicht nur mit Religion, Hautfarbe oder Nationalität verbunden. […]
Als Schriftstellerin kann ich deutschen Leser*innen einen Teil meiner Kultur durch Artikel vermitteln, die ich in der deutschen Presse veröffentliche. Aber dazu braucht es einen Wunsch in der Aufnahmegemeinschaft, etwas über die Kultur der Neuankömmlinge zu lernen. Es gibt viele vorgefertigte Muster und Stereotypen. Überall, wo ich hingehe, wird mir gesagt, dass ich nicht wie ein syrischer Flüchtling aussehe. Ich glaube, in den Köpfen der deutschen Gesellschaft ist eingepflanzt, dass ein Flüchtling schmutzige, abgenutzte Kleidung trägt und als Frau auf jeden Fall ein Kopftuch trägt. Warum kannte ich Deutschland vor meinem Asyl in Deutschland? Warum kannte ich die Geschichte der Mauer und Ingeborg Bachmann, Nietzsche, Habermas, Rilke, Günter Grass, Hannah Arendt, die Gruppe 47, Thomas Mann, Brecht und andere? Warum kennen die meisten Deutschen über andere Gesellschaften nur alte Stereotype?
Dies ist auch eine Form des Fanatismus, auch wenn es kein religiöser Fanatismus ist.[…]
Bildung ist natürlich wichtig, aber viele Einwanderer haben bereits ein höheres Bildungsniveau. Im neuen Land müssen unsere Abschlüsse anerkannt und nach dem Erlernen der Sprache Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden. Ansonsten müssen wir bei Null anfangen und fühlen uns wertlos. Das Problem für uns als Flüchtlinge oder Einwanderer ist, wenn unsere Zertifikate, die wir in unseren Heimatländern erhalten haben, so behandelt werden, als wären sie nichts wert. Als ob wir nichts gelernt hätten. Als ob wir vor unserer Ankunft nicht existiert hätten.[…]
„Die Sprache ist das Haus des Seins“, bemerkte Martin Heidegger. Jeden Tag, wenn ich ein neues deutsches Wort lerne, habe ich das Gefühl, dass ich mehr zu diesem Ort gehöre. Als ich die Namen einiger Bäume und Blumen auf Deutsch lernte, hatte ich das Gefühl, einen Teil meiner Kindheitserinnerungen an meine Großmutter wiedererlangt zu haben.[…]
Ich kann meine Träume und Albträume nicht verstehen: Obwohl ich seit fast fünf Jahren in Deutschland lebe und mit meinem Mann einen Haushalt gegründet habe, obwohl ich mit meinem neuen Leben zufrieden bin, träume ich bis heute nur von dem Haus, mit dem ich mit meiner Familie in Aleppo lebte. Auch meine Albträume handeln von der Vergangenheit, als ob die Gegenwart in meinen Träumen oder Unterbewusstsein noch keinen Platz gefunden hat.
Arrival is first and foremost being psychologically willing to arrive and to cut the thread to the past. I believe that arriving means something different for each person. Some have arrived as soon as they entered the new country, others live many years in the new country without arriving. There are many who speak the German language fluently and have built a social network, but deep down they are still stuck at the border. It’s a psychological feeling linked to a variety of factors and circumstances.[…]
Once the language problem is settled, the distance in the relations between the newcomers and the host community disappears. I have very strong friendships with Germans and I never felt that there was a distance between us. Maybe because we are about literature, culture and freedoms.[…]
If we wanted to understand the human brain, I would say it is made up of memories. Memories remain, strongly at first, but gradually they fade, the new life and its demands overlay them. But memories are the roots, and no one can cut off their roots without dying. […]
Home is memories, both happy and sad. You can build several homes if you collect memories there. When I go away for a few days, I miss Berlin, I miss my home and the city as if they were really my home. Belonging is not only connected to religion, race or nationality.[…]
As a writer, I can convey part of my culture to German readers through articles I publish in the German press. But this requires a desire in the host community to learn about the culture of the newcomers. There are many pre-formed patterns and stereotypes. Everywhere I go I am told that I don’t look like a Syrian refugee. I think it is implanted in the minds of German society that a refugee wears dirty, worn-out clothes and, as a woman, definitely wears a headscarf.
Why did I know Germany before my asylum in Germany? Why did I know the history of the Wall and Ingeborg Bachmann, Nietzsche, Habermas, Rilke, Günter Grass, Hannah Arendt, Gruppe 47, Thomas Mann, Brecht and others? Why do most Germans only know old stereotypes about other societies? This is also a form of fanaticism, even if it is not religious fanaticism. […]
Education is important, of course, but many immigrants already have a higher level of education. In the new country, our degrees must be recognised and employment opportunities must be opened after learning the language. Otherwise we have to start from scratch and feel worthless. The problem for us as refugees or immigrants is when the certificates we have received in our home countries are treated as if they are worth nothing. As if we haven’t learned anything. As if we did not exist before we arrived…
“Language is the house of being”, Martin Heidegger remarked. Every day when I learn a new German word, I feel like I belong more to this place. When I learned the names of some trees and flowers in German, I felt I had recovered part of my childhood memories of my grandmother. […]
I cannot understand my dreams and nightmares: Although I have been living in Germany for almost five years and have set up a household with my husband, although I am happy with my new life, to this day I only dream about the house I lived in with my family in Aleppo. My nightmares are also about the past, as if the present has not yet found a place in my dreams or subconscious.[…]
Widad Nabi was born in Kobani and now lives in Berlin. The Syrian-Kurdish writer studied economics in Aleppo. She published numerous texts in newspapers and magazines. In Germany, she has published in the Berliner Zeitung, SPON and Kursbuch, among others. Her first book in German was published in 2019 and in 2018 she received the first “Weiterschreiben-Stipendium Wiesbaden”.
In her texts Widad Nabi deals with the loss of familiar places, people and languages, but also with her arrival in the new city of Berlin. Her poems, which are published in the “Weiterschreiben”, can also be listened to there.